Veranstaltung: | 54. Bundeskongress der GRÜNEN JUGEND |
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Tagesordnungspunkt: | V Verschiedene Anträge |
Status: | Beschluss |
Beschluss durch: | Mitgliederversammlung |
Beschlossen am: | 10.11.2020 |
Eingereicht: | 10.11.2020, 15:48 |
Antragshistorie: | Version 1 |
Verbesserte Therapie, Versorgungslage und Prävention von psychischen Krankheiten
Beschlusstext
Psychische Krankheiten sind Teil der Lebensrealität vieler Menschen. Etwa ein
Drittel der Menschen in Deutschland gibt in Befragungen an, an psychischen
Krankheiten zu leiden und etwa ein Viertel zeigt beispielsweise Symptome einer
depressiven Episode. Laut den Berichten von Krankenkassen steigt auch die
Krankschreibung von Arbeitnehmer*innen aufgrund von psychischen Diagnosen extrem
an. Nur etwas mehr als die Hälfte der Deutschen würde aber laut Statistik dazu
bereit sein, wegen psychischer Probleme in Behandlung zu gehen. Das zeigt, wie
groß die Angst vor Stigmatisierung bis heute ist.
Am erschreckendsten ist die Tatsache, dass die Zahl der Tode, die auf psychische
Krankheiten zurückzuführen sind, dramatisch ansteigt und 2018 alleine in
Deutschland bei circa 60.000 Menschen lag. Unser Ziel muss es sein, in einer
Gesellschaft zu leben, die niemanden mehr krank macht und denen hilft, die eine
psychische Krankheit haben, genau wie sie es benötigen. Jedoch braucht es auch
konkrete Hilfe durch eine deutliche Verbesserung der psychotherapeutischen
Versorgung, die niedrigschwellig für alle ist und sich an den Bedürfnissen der
Einzelnen ausrichtet. Ziel dabei muss immer die Verringerung des subjektiven
Leidens sein. Leistungsdruck, Zwang zur Konformität und Existenzängste sind
konkrete Auswirkungen des Kapitalismus und und tragen neben anderen Faktoren
dazu bei, dass Menschen psychisch erkranken. Vielen dieser Menschen kann durch
eine bessere therapeutische Versorgung geholfen werden. Der Zweck einer
Psychotherapie ist die Verringerung von individuellem Leidensempfinden. Daher
fordern wir als Grüne Jugend einen Paradigmenwechsel in den Bereichen der
Versorgung, der Niedrigschwelligkeit, dem Übergang zwischen stationärer und
ambulanter Therapie, der Diagnostik und der Bedürfnisorientierung der
Psychotherapie!
Wie alle Teile der öffentlichen Gesundheitsversorgung wurde auch der
psychotherapeutische Bereich durch politische Reformen mehr und mehr
ökonomischen Zwängen unterworfen. Um unsere Forderungen umzusetzen sind
Ressourcen nötig, über die der Sektor derzeit nicht verfügt. Eine wirkliche
Wende und eine bedarfsgerechte psychotherapeutische Versorgung erfordert eine
konsequente Gemeinwohlorientierung der Gesundheitspolitik.
Verbesserung der Versorgung
Im Durchschnitt dauert es 20 Wochen, um einen Therapieplatz zu erhalten. Dabei
gibt es ein starkes Gefälle zwischen dem ländlichen Raum und den großen Städten.
In den wenigen Städten, in denen Psychotherapeut*innen ausgebildet werden, sind
mehr psychotherapeutische Praxen, doch selbst da ist kaum eine ausreichende
Versorgung gewährleistet. Durch die schlechte Versorgungslage müssen Menschen
mit psychischen Problemen mehrere Personen anrufen, um auf eine Warteliste zu
kommen. In psychischen Notfällen sind sowohl Telefonate als auch Wartezeiten
unerträglich und die Psychiatrie ein stigmatisierter Ort, wodurch Menschen sich
teilweise gar keine Hilfe suchen. Wir brauchen eine drastische Verkürzung der
Wartezeit auf 4 Wochen und einen leichteren Zugang zu psychologischer Hilfe!
Für Menschen für die der Zugang im heutigen System erschwert ist – aufgrund
fehlender Deutschkenntnisse, fehlender Barrierefreiheit für Menschen mit
körperlichen und neurologischen Einschränkungen und Behinderungen, ihrer
Religion, ihres sozialen Status und Alters – müssen geeignete Therapieplätze
wohnortnah oder durch mobile Therapeut*innen zur Verfügung stehen. Der neu
eingeführte Studiengang zur Psychotherapie, der den bisherigen Weg über einen
Psychologie-Master und eine darauffolgende Ausbildung ablösen soll, kann nur
eine tatsächliche Verbesserung bewirken, wenn genügend Studienplätze
flächendeckend angeboten werden. Bereits derzeit reichen die von den
Krankenkassen zugelassenen Psychotherapeut*innen nicht aus. Durch einen
leichteren und schnelleren Zugang würden sich die Zahlen der zu behandelnden
Patient*innen deutlich erhöhen. Dementsprechend muss gerade in der Anfangszeit
einer Umstellung eine häufigere Berechnung des Bedarfs erfolgen. Diese darf sich
nicht nur auf die aktuellen Zahlen der behandelten Personen stützen, sondern
muss Faktoren berücksichtigen, die die Suche nach einem Behandlungsplatz bisher
verhindert haben. Ziel sollte es sein, erschwerende Faktoren zu reduzieren und
die Verfügbarkeit daran anzupassen, statt durch Verknappung der Verfügbarkeit
die Hilfesuche zu erschweren.
Niedrigschwelliger, leichter, schneller!
Wesentlich für eine Vermeidung lang andauernder psychischer Erkrankungen sind
eine rechtzeitige Behandlung und Präventionsmaßnahmen. Entscheidend für die
psychische Gesundheit ist daher nicht nur die Behandlung gefestigter psychischer
Erkrankungen, sondern auch die Prävention sowie die Vermeidung einer
Verstetigung beginnender psychischer Erkrankungen. Dafür ist es wesentlich, dass
der Zugang zu Hilfsangeboten für Betroffene so ausgestaltet ist, dass ein
hürdenfreier und unverbindlicher Beratungstermin bei Bedarf zeitnah zustande
kommt.
Darüber hinaus braucht es ein zentrales Verzeichnis aller freien Therapieplätze
und einen Ausbau der ambulanten Akutversorgung. Um ein niedrigschwelliges und
zugleich auf die unterschiedlichen Bedürfnisse Einzelner zugeschnittenes Angebot
herzustellen, sollten Hilfsräume für Beratung, vorläufige Diagnose und
Anschlussbehandlung geschaffen werden. Diese können zugleich dem Austausch für
Betroffene und Angehörige dienen um dem*der Einzelnen das Gefühl zu nehmen, mit
der eigenen Erkrankung oder der eines Menschen im näheren sozialen Umfeld
alleine zu sein. Zudem sind insbesondere erste Beratungs- und Therapieangebote
in verschiedenen Formaten verfügbar zu machen, beispielsweisd telefonisch oder
online, damit eine Kontaktaufnahme für alle Hilfesuchenden ortsunabhängig und in
der passenden Form möglich ist. Da psychische Probleme keine Besonderheit sind,
sollten darüber hinaus breit angelegte präventive Maßnahmen wie
Resilienztrainings verstärkt werden. Solche Angebote sind insbesondere an
Schulen gezielt bekanntzumachen und durchzuführen. Hierdurch kann nicht nur eine
Kenntnis über Hilfsangebote erreicht werden, sondern auch die Sensibilisierung
für psychische Erkrankungen und die Selbstverständlichkeit ihrer Thematisierung
gefördert werden.
Übergang zwischen stationären Aufenthalten und
Alltag
In vielen Fällen reicht ambulante Therapie nicht aus – besonders in akuten
Krisen, bei schwierig zu behandelnden Krankheitsbildern oder dringend benötigtem
Abstand von der bisherigen Umgebung ist ein stationärer Aufenthalt in
psychiatrischen oder psychosomatischen Einrichtungen von Nöten. Durch die
mangelnde Zeit in der stationären Therapie wird eine Vorbereitung auf das Leben
nach der Klinik jedoch kaum ermöglicht. Außerdem sind die Wartezeiten so lang,
dass eine ambulante Therapie direkt im Anschluss kaum möglich ist. Deswegen
braucht es einen ausschließlich an der Patient*in orientierte Begleitung durch
die Therapie. Zur Überbrückung eventueller Wartezeiten und als ergänzende
Therapiemethode können (teil-)digitale Angebote, wie beispielsweise Chats mit
Therapeut*innen oder app-basierte Programme, weiterhelfen und eine Struktur mit
aufbauen sowie Halt geben. Durch andere Angebote könnte unter therapeutischer
Begleitung behutsam in den Alltag
eingestiegen werden.
Bedürfnisorientierung
Hilfe bei psychischen Problemen sollte genauso individuell sein, wie die
Menschen, die sie benötigen. Dabei sind Diagnosen ein wichtiges Hilfsmittel,
können aber individuelle Therapieansätze und genug Zeit nicht ersetzen. Gerade
das ist aber im bestehenden Gesundheitssystem kaum möglich. Es wird darauf
gesetzt, Menschen schnell wieder arbeitsfähig zu machen und zu möglichst
„normalen“ Menschen zu machen, statt das individuelle Leid zu lindern. So macht
unser System Menschen nicht nur krank, sondern verhindert auch die Genesung.
Durch die Ökonomisierung im Gesundheitswesen wird Behandelnden und Patient*innen
die Möglichkeit genommen, in Ruhe auf Ursachen psychischer Erkrankungen und
Therapiemethoden einzugehen und individuelle Lösungsansätze zu finden. Auch
alternative, wissenschaftlich fundierte Therapiemethoden sollen möglich und
erstattungsfähig sein. Viele gesellschaftlich marginalisierte Gruppen sind unter
Therapierenden nicht ausreichend vertreten. So reproduziert auch die
Psychotherapie gesellschaftliche Verhältnisse und Ausschlüsse. Therapierende
müssen für die besonders verletzliche Lage vieler Hilfesuchender und
gesellschaftliche Machtverhältnisse sensibilisiert werden.
Gerade im stationären Bereich gibt es kaum Spielräume, um die Therapieangebote
anzupassen. Wenn Patient*innen nicht den Anforderungen entsprechen, werden diese
möglicherweise entlassen, ohne die dringend benötigte Hilfe zu erhalten. Auf der
anderen Seite kommt es teilweise noch zu Zwangsbehandlungen. Beides kann dazu
führen, dass Betroffene in Zukunft keine Hilfe mehr suchen. Die Pflege und
Versorgung von Menschen mit psychischen Krankheiten erfolgt teilweise ohne
fachspezifische Weiterbildungen, ohne Spezialisierung und ohne konkretes Wissen
über Krankheitsbilder, wodurch die Behandlung häufig mangelhaft, manchmal sogar
schädlich ist. Für eine adäquate Therapie müssen jedoch auch immer andere
Krankheitsbilder mit in den Blick genommen werden.
Entstigmatisierung
Häufig werden Menschen, die eine psychische Krankheit haben als nicht „normal“
bezeichnet und stigmatisiert. Diese Stigmatisierung passiert auf der
Arbeitssuche, aber auch in der Schule und Ausbildung. So wird Menschen mit
psychischen Krankheiten zusätzlich der Alltag erschwert. Daher sind
Sensibilisierungsmaßnahmen und Schulungen für Mitarbeiter*innen von
Bildungseinrichtungen nötig, um bei psychischen Problemen und Krankheiten
Hilfsmöglichkeiten anbieten zu können. Dazu sollten Arbeitgeber*innen, die
Menschen mit psychischer Krankheit anstellen, stärker unterstützt werden. Ein
offenerer Umgang mit psychischen Krankheiten soll allen genug Wissen zugänglich
machen, um im Krankheitsfall selbstbestimmt Therapieangebote wahrnehmen zu
können.
Die bereits zuvor beschriebenen Sensibilisierungsmaßnahmen, wie etwa
Resilienztrainings in Bildungseinrichtungen, können zu einer Entstigmatisierung
beitragen. Ein offenerer Umgang mit psychischen Krankheiten soll Allen genug
Wissen zugänglich machen, um im Krankheitsfall selbstbestimmt Therapieangebote
wahrnehmen zu können. Darüber hinaus sollten aber auch Arbeitgeber*innen und
Mitarbeiter*innen von Bildungseinrichtungen geschult werden, um bei psychischen
Problemen und Krankheiten Hilfsmöglichkeiten anbieten zu können. Auch das Bild
von stationären Einrichtungen muss gewandelt werden. Das vorherrschend Zerrbild
von psychiatrischen Kliniken wird unter anderem durch die Darstellung in
unterschiedlichen Medien (re-)produziert. Durch umfassende und breite Aufklärung
über psychische Krankheiten kann dieses Stigma abgebaut werden. Eine
Entstigmatisierung bedeutet auch ein gesellschaftliches Verständnis dafür, dass
niemand herrschenden Vorstellungen von Normalität entsprechen muss.