Veranstaltung: | 53. Bundeskongress der Grünen Jugend |
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Tagesordnungspunkt: | K – Feministische Kämpfe |
Status: | Beschluss |
Beschluss durch: | Bundesmitgliederversammlung |
Beschlossen am: | 02.11.2019 |
Eingereicht: | 02.11.2019, 18:22 |
Antragshistorie: | Version 1 |
Geschlechterungerechtigkeit im Gesundheitssystem überwinden - gute Gesundheitsversorgung für alle!
Beschlusstext
I. Gesundheit ist ein Menschenrecht!
Der Zugang zu einer guten Gesundheitsversorgung ist ein Menschenrecht –
unabhängig von Herkunft, Geschlecht oder der sozialen sowie wirtschaftlichen
Lage. So wie in alle Lebensbereiche hat das neoliberale Paradigma jedoch auch in
die Sphäre der Gesundheit Einzug gefunden. Die voranschreitende Ökonomisierung
des Gesundheitssystems sorgt dafür, dass nicht das menschliche Bedürfnis im
Zentrum steht, sondern Profit und Gewinn.
Für uns ist klar: Gesundheit ist keine Ware, sondern ein Menschenrecht. Eine
gute Gesundheitsversorgung darf keine Frage des Geldbeutels sein!
Der Zugang zu angemessener Gesundheitsversorgung ist weltweit jedoch für viele
Menschen nicht gegegeben. Die Ausschlüsse und Erschwernisse verteilen sich dabei
jedoch nicht gleichmäßig, sondern verbinden sich mit bestehenden Strukturen der
Ungleichheiten – gerade Frauen, Inter- und Transpersonen sind von
geschlechterspezifischen Ausschlüssen betroffen, die sie zu Bürger*innen zweiter
Klasse machen:
Sei es die Kriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen oder den fehlenden
Zugang zu Informationen durch den Paragraphen 219a – immer noch werden Personen
mit Gebärmutter und andere Menschen mit Gebärmutter ihre Rechte auf körperliche
Selbstbestimmung verwehrt. Auch in der Geburtshilfe gibt es viele Missstände:
Hebammen und Pflegepersonal sind überlastet, immer mehr Geburtsstationen
schließen, der Bedarf nach Geburtshäusern ist bei Weitem nicht gedeckt, viele
Gebärende erleben während der Geburt Gewalt. Eine gute gesundheitliche
Versorgung betrifft jedoch nicht nur das Recht auf reproduktive
Selbstbestimmung, sondern die Gesundheitsversorgung insgesamt. Sexismus und
veraltete Rollenbilder führen dazu, dass Beschwerden bei Frauen eher psychische
und bei Männern eher körperliche Ursachen zugeschrieben werden.
Krankheitsbilder, die vorwiegend Frauen betreffen, sind meist schlecht
erforscht. Symptome wie starker Schmerz werden verharmlost und Krankheiten, von
denen vor allem Frauen betroffen sind, werden nicht erkannt oder korrekt
diagnostiziert. An vielen Stellen werden teure Behandlungen oder
Vorsorgeuntersuchungen nicht oder nur zu Teilen von den Krankenkassen
übernommen. In einer patriarchalen Gesellschaft, stellt auch in der Medizin
sowohl in der Gesundheitsforschung der Mann die Norm dar: In der Vergangenheit
wurden Frauen, Inter- und Transpersonen ausdrücklich aus Arzneimittelstudien
ausgeschlossen und geschlechtsspezifische Unterschiede bei Krankheitssymptomen
werden ignoriert. Prekäre Verhältnisse in Bereichen, in denen es vor allem um
Frauen geht, ist kein Zufall, sondern eine Folge patriarchaler Strukturen.
Nicht alle Frauen können schwanger werden und nicht alle Menschen, die schwanger
werden können, sind Frauen. Auch Transmänner, Inter und Non-Binaries sind von
der Einschränkung reproduktiven Rechte massiv betroffen.
Der Einsatz für eine gute Gesundheitsversorgung stellt damit einen zentralen
feministischen Kampf dar. Um diese Ungerechtigkeit zu bekämpfen, brauchen wir
endlich eine feministische Gesundheitspolitik. Die GRÜNE JUGEND fordert darum
eine Reihe an Maßnahmen.
II. Über unseren Körper entscheiden wir selbst
Kostenlose Verhütungsmittel und Hygieneprodukte
Wir wollen selbstbestimmt leben und lieben. Deshalb fordern wir einen freien und
kostenlosen Zugang zu Verhütungsmitteln für alle – ob zur
Schwangerschaftsverhütung oder zum Schutz gegen sexuell übertragbare
Krankheiten. Denn sicherer Sex darf keine Frage des Geldbeutels sein. Alle
Verhütungsmittel sollen deshalb in Zukunft unabhängig vom Alter von der
Krankenkasse übernommen werden. Als ersten Schritt dorthin fordern wir die
Kostenübernahme für Menschen mit geringem Einkommen sowie die freie
Zurverfügungstellung durch Kommunen, zum Beispiel durch die Gesundheitsämter.
Das Angebot soll dabei nicht nur „klassische“ Verhütungsmittel wie Kondome und
die Hormonpille, sondern auch weniger bekannte Mittel wie Lecktücher und nicht-
hormonelle Präparate umfassen.
Auch die Menstruation stellt für viele Menschen eine finanzielle Belastung dar.
Die Periode ist jedoch kein Luxus und nichts, wofür man bezahlen sollte. Deshalb
unterstützen wir die Bestrebungen die Mehrwertsteuer auf Hygieneprodukte
kurzfristig von 19 % auf 7 % abzusenken, fordern aber mittelfristig die
kostenlose Zurverügungstellung von Menstruationsartikeln.
Schwangerschaftsabbrüche entkriminalisieren
Schwangerschaftsabbrüche werden in Deutschland weiterhin kriminalisiert. Das
führt in Kombination mit der Hetze von selbsternannten Lebensschützer*innen
dazu, dass immer mehr Ärzt*innen sich nicht mehr trauen, Abbrüche anzubieten.
Das erschwert insbesondere in ländlichen Regionen den Zugang zu Abbrüchen
massiv. Das Recht von Menschen mit Gebärmutter auf reproduktive
Gesundheitsversorgung wird durch die bestehende Gesetzeslage eingeschränkt.
Das Selbstbestimmungsrecht von Schwangeren darf nicht länger durch das
Strafgesetzbuch kriminalisiert werden, wie es die Paragraphen 218 und 219a tun.
Der sogenannte „Kompromiss“, der Anfang dieses Jahres rund um den Paragraphen
219a von CDU und SPD beschlossen wurde, reicht uns deshalb bei weitem nicht aus.
Wir kämpfen weiter für die Entkriminalisierung eines Abbruchs der
Schwangerschaft. Dafür müssen die Paragraphen 218 und 219a StGB abgeschafft
werden. Hierbei müssen sowohl medikamentöse als auch opperative Abbrüche
Kassenleistung werden und ohne Einschränkung von diesen übernommen werden. Der
Zugang zu sicheren Schwangerschaftsabbrüchen darf keine Frage des Geldbeutels
sein! Selbstbestimmung bedeutet für uns, dass Menschen frei von jeglichem Stigma
über ihren Körper und eine mögliche Schwangerschaft entscheiden können.
Kanada ist hier mit gutem Beispiel und ausnahmslos positiven Auswirkungen
vorangegangen: Hier sind Schwangerschaftsabbrüche legal und man sieht, dass 90
Prozent der Abbrüche vor der 12. Schwangerschaftswoche stattfinden. Abbrüche
nach Ablauf dieser Frist erfolgen meist aus medizinischen Gründen. Zudem hat
Kanada die geringste Zahl an Komplikationen beim Eingriff und die geringste
Müttersterblichkeit der ganzen Welt. Hier zeigt sich, dass nur eine
Entkriminalisierung wirklich sichere Abbrüche ermöglicht. An diesem guten
Beispiel sollte sich Deutschland orientieren und spezifische Regelungen der
Berufsordnung der Ärzt*innen überlassen.
Verbesserung der Beratungsangebote
Es ist richtig und wichtig, dass Menschen in einem Schwangerschaftskonflikt
fachkundige Beratung wahrnehmen können. Auch nach Streichung der Paragraphen 218
und 219a muss ein freiwilliges, ergebnisoffenes, ideologie- und kostenfreies
Beratungsangebot gewährleistet sein. Damit stellen wir sicher, dass Schwangere,
die einen Abbruch erwägen gute Beratung erhalten, aber auch jene, die
möglicherweise gegen ihren Willen zu einem Abbruch gedrängt werden, eine
umfangreiche Unterstützung bei der für sie richtigen Entscheidung erfahren.
Wir setzen uns deshalb dafür ein, dass flächendeckend in ganz Deutschland die
Finanzierung von ausreichend vielen qualifizierten Beratungsstellen langfristig
gesichert ist.
Fundis stoppen
Beratungsstellen, die nachweislich keine ergebnisoffene Beratung anbieten,
sollten überprüft werden. Insbesondere Stellen, die mit
Schwangerschaftskonfliktberatung werben, aber keine Beratungsscheine ausstellen,
solange diese gesetzlich für einen Abbruch erforderlich sind, müssen geschlossen
werden. Diese „Beratungsstellen“ sind meist organisierte Stellen von sogenannten
„Lebensschützer*innen“, die das Leben der schwangeren Frauen durch diese
ideologische Beratung noch verschlimmern und erst Recht nicht ergebnisoffen
unterstützen.
Des weiteren fordert die GRÜNE JUGEND ein Protestverbot für Lebensschützer*innen
im Umkreis von 1 km rund um Praxen und Beratungsstellen, die
Schwangerschaftsabbrüche durchführen. Darunter fallen für uns auch angebliche
Gebete vor Praxen. Das Stigma und die Verurteilung die diese Menschen auf die
Frauen projizieren muss verhindert werden.
III. Für eine selbstbestimmte Schwangerschaft
und Geburt
Unterstützung bei Schwangerschaften
Während Schwangerschaftsabbrüche kriminalisiert sind, werden Menschen, die sich
für eine Schwangerschaft entscheiden gerade dann, wenn sie wenig Geld haben, oft
alleine gelassen. Ein großer Teil der Untersuchungen und medizinischen Angebote,
die während einer Schwangerschaft zwar nicht absolut notwendig, aber sehr
sinnvoll sind, müssen von gesetzlich versicherten Kassenpatient*innen aus
eigener Tasche bezahlt werden. Eine gute Gesundheitsversorgung während der
Schwangerschaft darf jedoch nicht vom Geldbeutel abhängen. Deshalb setzen wir
uns für eine stärkere finanzielle Unterstützung von Schwangeren mit geringem
Einkommen sowie eine Erweiterung des Katalogs der Maßnahmen ein, die während der
Schwangerschaft von der Krankenkasse übernommen werden.
Hebammen und Entbindungspfleger*innen stärken
Die Situation von Hebammen und Entbindungspfleger*innen wurde in den letzten
Jahren immer wieder diskutiert, auch wenn das Thema in den vergangenen Monaten
stark in Vergessenheit geraten zu sein scheint, obschon sich die Lage nicht
verbessert hat.
Seit 2015 wurden knapp 70 Kreißsäle geschlossen, mehr als weitere 20 sind von
der Schließung bedroht oder temporär geschlossen. Eine wohnortnahe Entbindung
ist in vielen Regionen bereits nicht mehr möglich, genauso wenig wie eine
bewusste und überlegte Entscheidung zwischen verschiedenen Entbindungsorten.
Gerade freiberuflich arbeitende Hebammen und Entbindungspfleger*innen, die etwa
in Geburtshäusern arbeiten oder Hausgeburten bertreuen, haben in den vergangenen
Jahren ihr Handwerk aufgegeben, da die hohen Haftpflichtversicherungssummen für
sie nicht zu stemmen waren. Darüber hinaus hat es sich für viele Kliniken als
nicht wirtschaftlich herausgestellt, Kreißsäle zu betreiben und der
Personalmangel hat sein Übriges getan.
Auf Landkarten der Unterversorgung können sich werdende Eltern eintragen, wenn
sie für die Vor- oder Nachsorge keine Hebamme finden. Besonders eine Betreuung
im Wochenbett ist im ganzen Bundesgebiet, und hier besonders in Ballungsräumen,
nur noch schwerlich zu gewährleisten, was insofern fatal ist, als dass hier
jungen Familien wichtige Unterstützung verwehrt wird, die etwa zur
Gewaltprävention im Umgang mit dem Säugling beitragen kann. Auch finden gerade
Mütter keine Ansprechpartner*innen außerhalb des privaten Umkreises mehr, wenn
sie unter Wochenbettdepressionen leiden, Probleme bei der Versorgung des Kindes
entstehen oder Fragen zur Rückbildung auftreten. Dabei ist gerade in dieser
emotional zumeist herausfordernden Zeit ein gutes Unterstützungsangebot immens
wichtig.
Bestrebungen, ein Berufsfeld zum Besseren zu verändern, stehen und fallen nicht
nur mit der Frage nach seiner Akademisierung, sondern vor allem auch mit der
Frage, was im bereits Bestehenden verändert werden kann. Dies ist besonders
insofern wichtig, da sich abzeichnet, dass immer mehr bereits ausgebildete
Fachkräfte das Berufsfeld verlassen. Ein besserer Betreuungsschlüssel, mit dem
Ziel, in allen Phasen der Geburt eine 1:1-Betreuung zu gewährleisten, sollte
oberstes Ziel sein – nur so kann eine qualitative, bedürfnisorientierte
Betreuung von Gebärenden ermöglicht werden. Auf der anderen Seite stehen
Hebammen so auch nicht mehr unter dem immensen Druck, mehreren Gebärenden
gleichzeitig gerecht zu werden. Hierfür müssen nun sehr schnell genügend
Studienplätze für Hebammenkunde geschaffen werden, um einer weiteren
Verschärfung des Engpasses entgegenzuwirken. Darüber hinaus muss endlich eine
Lösung für die Versicherungsproblematik gefunden werden.
Eine Möglichkeit wäre die Deckelung der maximalen Schadenssumme im
Versicherungsfall. Darüber hinaus zu leistende Zahlungen müssten dann aus einem
Haftungsfond beglichen werden. Dann müsste nicht nur die verhältnismäßig kleine
Gruppe der freiberuflichen Hebammen für die Schadenssummen aufkommen, sondern
die Gemeinschaft wäre an den Kosten indirekt beteiligt und die notwendige und
grundlegende Arbeit der Hebammen wäre gesichert. Langfristig brauchen wir
allerdings eine Neuordnung der Berufshaftpflicht für alle Gesundheitsberufe.
Gewalt bei der Geburt beenden
Neben der Schwangerschaft und dem Wochenbett, stellt gerade die Geburt eine
besonders verletzliche Situation dar, da sich die gebärende Person oft in einer
besonderen Hilflosigkeit sowie Abhängigkeit vom medizinischen Personal
wiederfindet. Statt einer empathischen Betreuung, die sich an den Bedürfnissen
der Gebärenden orientiert, erleben zahlreiche Gebärende Vernachlässigung,
aufgezwungene Eingriffe oder Demütigungen. Auf der Ebene der psychischen Gewalt
bedeutet dies zudem verbale Gewalt, Vernachlässigung, Ausübung von Druck,
Machtmissbrauch, grobe Verletzungen der Intimsphäre oder Diskriminierung, wie
sie beispielsweise besonders Jugendliche, Unverheiratete, Menschen mit niedrigem
sozialwirtschaftlichem Status, Transpersonen oder People of Color erfahren. Des
Weiteren müssen zahlreiche Gebärende körperliche Misshandlung, Eingriffe ohne
Einverständnis wie Dammschnitte oder übergriffige Untersuchungen erleiden.
Alle Schwangeren haben damit das Recht auf eine würdevolle und wertschätzende
Gesundheitsversorgung im Verlauf der Schwangerschaft und während der Geburt,
frei von Gewalt und Diskriminierung!
Die Ausübung von direkter Gewalt durch das medizinische Personal oder die
Verletzung der Autonomie und Freiheiten der Gebärenden hängen dabei eng mit
strukturellen Problemen in Geburtshilfe und der medizinischen Sphäre zusammen.
Personalmangel, fehlende Raumkapazitäten, überlastete Geburtshelfer*innen und
Ärzt*innen, Kreißsaalschließungen, mangelnde Verbreitung von Geburtshäusern,
fehlende wohnortnahe Versorgung sowie die strukturelle Gewalt an Gebärenden
tragen zum Zustandekommen traumatisierender Erlebnisse während der Geburt bei.
Auch prekäre Arbeitsbedingungen, wie die Tatsache, dass Hebammen übermüdet,
gestresst und unterbezahlt drei oder vier Gebärende gleichzeitig betreuen
müssen, macht eine gute Kommunikation über persönliche Wünsche und Grenzen,
einen respektvollen Umgang und das zuverlässige Einholen des informierten
Einverständnisses bei medizinischen Interventionen fast unmöglich. Die
Zwangslage, Gebärende aufgrund einer fehlenden Versorgungsstruktur in
Krankenhausabläufe zu integrieren, steht einer fürsorglichen und
bedürfnisorientierten Betreuung von Gebärenden entgegen. Um Geburten rentabel zu
gestalten, werden Geburtsvorgänge durch Interventionen wie Medikamentengabe
beschleunigt oder zum Kaiserschnitt gedrängt, obwohl dies nicht notwendig oder
von den Gebärenden gewünscht ist.
Nicht Effizienz oder Profit, sondern die Bedürfnisse und Wünsche der Gebärenden
müssen im Zentrum stehen, denn alle haben das Recht die Umstände, in denen sie
ihre Kinder zur Welt bringt, frei zu wählen!
IV. Daseinsvorsorge als Grundvoraussetzung
Für eine selbstbestimmte Schwangerschaft und Geburt und insgesamt für eine gute
Gesundheitsversorgung sind Daseinsvorsorge und eine ausfinanzierte Infrastruktur
unerlässlich. Die Ökonomisierung des Gesundheitswesens und aller Bereiche des
Lebens hat dazu geführt, dass auch die zentralsten Bereiche der
Gesundheitsversorgung vielen Menschen immer schwerer zugänglich werden. Dazu
kommt, dass in vielen Regionen der Rückbau der öffentlichen Versorgung weiter
voranschreitet.
Daraus entstehen massive Probleme bei Geburtenhilfe und
Schwangerschaftsbegleitung. So werden immer mehr Kinder in Krankenwägen geboren,
weil der Weg zur nächsten Geburtenstation oder zum Geburtshaus zu weit ist. Es
darf nicht sein, dass Schwangere für Schwangerschaftsabbrüche,
schwangerschaftsbegleitende Maßnahmen und Geburten teils hunderte Kilometer auf
sich nehmen müssen. Denn mit weiten Wegen gehen auch deutlich erhöhte
Gesundheitsrisiken für alle Beteiligten einher.
Ein besonderes Problem gibt es in diesem Zusammenhang bei Abtreibungen. Es gibt
ohnehin schon viel zu wenige Ärzt*innen, die Schwangerschaftsabbrüche anbieten.
In vielen Regionen, wo sich der Staat zurückzieht, übernimmt dann aber die
katholische Kirche die Gesundheitsversorgung, deren Krankenhausleiter*innen und
Ärzt*innen sich oftmals kategorisch weigern, Schwangere zu unterstützen und die
versuchen, sie mit moralischem Druck zu einer eigentlich ungewollten Geburt zu
drängen.
Daraus folgen für uns folgende Kernforderungen:
Öffentliche Mittel für Geburtsstationen, Geburtshäuser und Hebammen müssen
deutlich erhöht werden.
Ausbildungen in der Fläche müssen stärker vorangetrieben werden, damit es
auch in der Fläche langfristig mehr gut ausgebildete Kräfte gibt.
Es bedarf einer breiten Versorgung in allen Ecken des Landes. Die
Gesundheit ist auf Usedom, in der Grafschaft Bentheim oder im Bayischen
Wald genauso relevant wie in Berlin oder in Hamburg. Dazu bedarf es der
gesetzlichen Festschreibung einer Maximalentfernung von Krankenhäusern und
Arztpraxen, die auch in den hintersten Ecken Deutschlands nicht
überschritten werden darf.
Um flächendeckend umfassende Leistungen anzubieten bedarf es der Schaffung
von Frauengesundheits- und Schwangerschaftszentren, die eben nicht nur die
Schwangerschaftsbegleitung, Geburtshilfe und Neugeborenenversorgung
anbieten, sondern auch Schwangerschaftsabbrüche. Dabei ist für uns klar:
Die Kirche und andere Glaubensgemeinschaften gehört nicht in den
Kreißsaal. Die zu schaffenden Frauengesundheits- und
Schwangerschaftszentren dürfen nicht unter der Leitung von Kirchen oder
anderen Glaubensgemeinschaften stehen.
V. Frauen in der Gesundheitsforschung
Frauen sind im Bereich der Medizin, insbesondere in der Forschung, stark
unterrepräsentiert. Das ist nicht nur in Hinblick der Gleichberechtigung am
Arbeitsmarkt ein Problem, sondern hat auch Auswirkungen darauf, woran geforscht
wird, wessen Interessen berücksichtigt und für wen Produkte hergestellt werden.
Ein männlich gedachtes und strukturiertes Gesundheitssystem reproduziert sich
fortwährend selbst. So sind Forschung und Produkte oft an cis-männlichen Körpern
erprobt und auf diese ausgerichtet. Das führt dazu, dass Frauen, Transmenschen
und Non-Binaries aktiv gefährdet werden. Ein Beispiel dafür sind Frühwarnsysteme
für Herzinfarkte. Der Informationsstand und die öffentliche Aufklärung in diesem
Bereich erfassen fast ausschließlich Symptome, die Herzinfarkte meistens bei
Männern verursachen. Dadurch bleiben sie bei Frauen oft lange unentdeckt, werden
erst spät behandelt und das Risiko von Langzeitschäden oder Tod steigt. Wir
wollen ein Gesundheitssystem, dass alle Körper gleichermaßen in den Blick nimmt
und allen eine bestmögliche Versorgung bietet. Ein erster wichtiger Schritt in
diese Richtung ist eine gleichberechtigte Teilhabe von Frauen in der Medizin.
Deshalb fordern wir eine paritätische Besetzung und damit eine Frauenquote für
Führungspositionen und Entscheidungsgremien des Gesundheitswesens, in den
Vorständen der Krankenkassen, Ärztekammern und Kassenärztlichen Vereinigungen.
Gleichzeitig müssen Forschungsgelder gerecht verteilt werden. Dabei sollen
sowohl Projekte von Forscherinnen als auch Forschungsvorhaben, die sich explizit
mit Frauengesundheit oder der Gesundheitsversorgung von Transpersonen
beschäftigen besonders berücksichtigt werden.
VI. Gesundheitsversorgung für Transmenschen
stärken
Transmenschen sind in besonderem Maße von Ausschlüssen im Gesundheitssystem
betroffen. Sie leiden sowohl unter der zweigeschlechtlichen Ausrichtung der
Gesundheitsversorgung als auch unter der Pathologisierung von Transmenschen, die
tief in Wissenschaft und Praxis eingeschrieben ist. Seit den 1950er-Jahren
herrschte die Vorstellung, dass es sich bei Transsexualität um eine psychische
Erkrankung handele. Auch wenn es hier dank der arbeit von mutigen
Transaktivist*innen in den letzten Jahren Fortschritte gab – so wird
Transsexualität in der aktuellen Fassung der Internationalen Klassifizierung von
Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD) seit 2018 nicht mehr als
Krankheit oder Störung aufgeführt – wirkt die Psychopathologisierung weiter. Dem
stellen wir uns entgegen. Denn wir setzen uns für einen gleichberechtigten
Zugang von Transmenschen zu einer selbstbestimmten und würdevollen
Gesundheitsversorgung ein. Deshalb fordern wir:
die sozialrechtliche Absicherung transspezifischer Gesundheitsversorgung;
die grundsätzliche Übernahme der Kosten von geschlechtsmodifizierenden
oder -angleichenden Behandlungen ohne die Notwendigkeit des Nachweis der
medizinischen Notwendigkeit;
die Entpatholosogierung von Transidentitäten und Umsetzung der Empfehlung
des Europarats aus der Resolution 2048 „Discrimination against transgender
people in Europe“ vom 22. April 2015, alle Einstufungen als psychische
Krankheiten in nationalen Klassifikationen aller EU-Mitgliedsstaaten zu
streichen;
Umsetzung der S3-Leitlinie zur Diagnostik, Beratung und Behandlung, die
vom Bundesverband Trans* in Zusammenarbeit mit der Arbeitsgemeinschaft der
Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) erarbeitet
wurde.
Bis 2011 wurden Transpersonen, die ihre Personenstandsänderung beantragt haben,
zwangssterilisiert. Noch heute bestehen große Hürden für Transpersonen, die ein
Kind bekommen wollen. Transmänner, die ein Kind gebären, werden nach § 1592 BGB
nicht als „Vater“ des Kindes eingetragen, sondern als „Mutter“. Transpersonen,
die Eltern werden oder sind, sind mit ihrem alten, oft ungültigen Namen in die
Geburtsurkunde ihres Kindes eingetragen und können so im Alltag nicht beweisen,
dass sie das Elternteil des Kindes sind.
VII. Feministische Gesundheitspolitik global
denken
Der Zugang zu reproduktiver Gesundheit und eine gute Gesundheitsversorgung ist
gerade im globalen Kontext für viele Menschen nicht gegeben. Entweder verhindern
Armut und eine schlechte wirtschaftliche Lage eine gute medizinische Versorgung,
oder autoritäre, frauen- und queerfeindliche Regime produzieren bewusst
Ausschlüsse, um Frauen und LGBTIQ zu unterdrücken. Es wird Zeit, dass die
Staatengemeinschaft hier endlich Verantwortung übernimmt. Deutschland müsste
hier Druck auf Staaten wie die USA ausüben, ist jedoch aufgrund der
frauenfeindlichen Gesetzeslage im eigenen Land unglaubwürdig. Die
Entkriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen ist also auch die
Voraussetzung dafür, sexuelle und reproduktive Selbstbestimmung im globalen und
internationalen Kontext voranzutreiben. Der Einsatz für reproduktive Rechte und
eine feministische Betrachtung von Gesundheit muss Teil einer feministischen
Außenpolitik werden. Dazugehört die ausreichende Finanzierung des
Weltbevölkerungsfonds (UNFPA) der Vereinten Nationen, der sich international für
eine selbstbestimmte Familienplanung einsetzt, sowie die Finanzierung von
Nichtregierungsorganisationen, die sich für reproduktive Rechte stark machen,
durch die Staatengemeinschaft, gerade in solchen Ländern, in denen Frauenrechte
massiv eingeschränkt und Abbrüche kriminalisiert werden.
Außerdem muss der Kampf gegen weibliche Genitalverstümmelung auf internationaler
Ebene vorangetrieben werden. Bei weiblicher Genitalverstümmelung handelt es sich
um einen schweren Menschenrechtsverstoß und einen groben Verstoß gegen das Recht
auf körperliche und seelische Unversehrtheit von Kindern. In 30 Ländern wird der
grausame Ritus der Genitalverstümmelung aber immer noch ausgeübt und weltweit
sind etwa 200 Millionen Mädchen und Frauen betroffen. Nach Schätzungen des EU-
Parlaments sind in Europa derzeit mehr als 180.000 Mädchen dem Risiko
ausgesetzt, in einem Land der EU oder im Herkunftsland ihrer Eltern
Genitalverstümmelung zu erleiden. In Deutschland leben mehr als 20.000 Frauen,
die Opfer weiblicher Genitalverstümmelung wurden. Seit einigen Jahren findet
sich weibliche Genitalverstümmelung im Strafgesetz wieder und wird als
Fluchtgrund anerkannt. Die bisherigen Schutzmaßnahmen greifen jedoch zu kurz.
Wir fordern den Ausbau von Präventionsmaßnahmen wie die dauerhafte Förderung von
Projekten zur Aufklärung und die gezielte Schulung von Gynäkolog*innen und
Kinderärzt*innen. Auch wohnortnahe und niedrigschwellige Angebote müssen
geschaffen werden, bei denen betroffene Mädchen und Frauen Hilfe, Beratung und
Schutz in Anspruch nehmen können und medizinische sowie psychosoziale
Unterstützung erhalten.
VIII. Feministische Kämpfe als Ausgangspunkt für
ein anderes Gesundheitssystem
Im nächsten Jahr wollen wir verstärkt Kämpfe miteinander verbinden. Eine
feministische Gesundheitspolitik muss für uns mit einer grundsätzlichen Kritik
an der Ökonomisierung des Gesundheitssystems verbunden werden. Deshalb wollen
wir uns als GRÜNE JUGEND verstärkt mit diesem Thema beschäftigen und Visionen
für ein Gesundheitssystem der Zukunft entwerfen, dass die Bedürfnisse von
Menschen und nicht Profite in den Mittelpunkt stellt. Damit der Spruch
„Gesundheit ist keine Ware, sondern ein Recht!“ irgendwann mal kein Anspruch,
sondern eine Realität ist.