Veranstaltung: | 53. Bundeskongress der Grünen Jugend |
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Tagesordnungspunkt: | V – Verschiedene Anträge |
Status: | Beschluss |
Beschluss durch: | Bundesmitgliederversammlung |
Beschlossen am: | 03.11.2019 |
Eingereicht: | 03.11.2019, 15:04 |
Antragshistorie: | Version 1 |
Schluss mit dem Anti-Flüchtlingsdeal mit der Türkei – Für eine friedliche Lösung der kurdischen Frage!
Beschlusstext
Am 10. Oktober hat die Türkei völkerrechtswidrig einen Militäreinsatz im Norden
Syriens eingeleitet. Dem vorausgegangen war ein Truppenabzug der USA aus
Nordsyrien. Das Ziel dieses Einsatzes ist die Besetzung der autonomen kurdischen
Region Rojava und die Vertreibung der kurdischen Bevölkerungsgruppe aus der
Region. Dabei werden kurdische Menschen pauschal als „Terrorist*innen“
bezeichnet – und wie die völkerrechtswidrige Besetzung der autonomen kurdischen
Region Efrin im Jahr 2018 gezeigt hat, schreckt das Erdoğan-Regime in der Türkei
dabei auch nicht vor der Ermordung von Menschen und der Zusammenarbeit mit
islamistischen Gruppen, etwa aus dem Umfeld von Al Quaida, zurück.
Dieser Einsatz beendet keinen Terror, er ist Terror
Besonders empörend ist dabei die Begründung des Einsatzes mit der
Terrorismusbekämpfung. Jene kurdische Truppen, die nun angegriffen werden, haben
ganz konkret den Terror des islamischen Staates bekämpft und beendet. Sie sind
dafür verantwortlich, dass unzählige Menschenleben gerettet wurden und ganze
Bevölkerungen, wie die Jesid*innen, vor einem Genozid bewahrt wurden.
Mit der Destabilisierung der Region durch die Türkei wird nun wieder eine
Grundlage geschaffen, auf der sich der islamische Staat ausbreiten kann.
Kurdische Truppen werden nun an die Grenze abgezogen. Im Inland entsteht damit
ein Machtvakuum für Terroristen. Außerdem können die Gefangenenlager des
islamischen Staates nicht mehr kontrolliert werden. IS-Kämpfer und -Angehörige
(auch deutscher Staatsangehörigkeit) sind nun entweder frei, um (wieder)
Gewalttaten in der Region und in Europa zu begehen, fallen Racheakten zum Opfer
oder geraten in syrische Gefangenschaft, wo ihre Menschenrechte in akuter Gefahr
sind. Diese Situation ist auch dem Zögern der deutschen und anderen europäischen
Regierungen geschuldet, sich um ihre potenziell straffällig gewordenen
Bürger*innen zu kümmern, sie zurück zu holen und vor europäische Gerichte zu
stellen.
Die Situation kann legitimerweise als Totalversagen der NATO verstanden werden
und liefert ein weiteres Argument, um die Sinnhaftigkeit ihrer Existenz in Frage
zu stellen: Die Organisation, die ihrer Selbstbeschreibung nach an einer
friedlicheren Welt arbeitet, zeigt keine effektiven Maßnahmen vor, um den
völkerrechtswidrigen Angriffskrieg eines ihrer Mitglieder zu unterbinden oder
auch nur zu sanktionieren. Im Gegenteil: Die Mitgliedschaft der Türkei in der
NATO wird als Begründung angeführt, um ihr weiter Waffen zu liefern, denen
zwangsläufig weitere Menschenleben zum Opfer fallen werden.
Die technische Ausstattung für diesen Einsatz ist dabei zentral auf Europäische
Staaten zurückzuführen. Entgegen anders lautender Ankündigungen genehmigte die
Bundesregierung alleine im Jahr 2018 Rüstungsgüter in einem Wert von mehr als
240 Millionen Euro an die Türkei – nach dem ersten völkerrechtswidrigen
Einmarsch der Republik Türkei in der Region Efrin.
Dass die Europäische Außenpolitik bei der Ermöglichung dieses Vorgehens
mitgeholfen hat und sich diplomatisch nicht einmal um eine Verhinderung dieses
Einsatzes bemüht, ist in den Augen der GRÜNEN JUGEND ein Skandal.
Wir fordern deshalb:
- die Einleitung von wirtschaftlichen Sanktionen gegen die Türkei, welche
vom Umfang her die Türkei zum Einlenken zwingen und erst nach dem
vollständigen Abzug der Türkei aus Syrien aufgehoben werden sollen;
- einen Ausschluss der Türkei aus dem Millitärbündnis der NATO;
- eine sofortige, vollständige Aussetzung der EU-Beitrittsverhandlungen und
der Einstellungen aller Zahlungen im Rahm dieser – solange das illegitime
AKP-Regime an der Macht ist, darf es keine Normalisierung der
Beitrittsverhandlungen geben;
- eine Aufkündigung des Anti-Flüchtlingsdeals mit der Türkei;
- ein Exportverbot für jegliche Rüstungsgüter an die Türkei;
- alle diplomatische Bemühungen zum Stoppen dieses Einsatzes statt
Wegschauen durch die Deutsche Bundesregierung und die Europäische Union;
- Bemühungen der Bundesregierung für eine UN-Resolution gegen diesen
Einsatz;
- die Prüfung eines UN-Mandats für das Grenzgebiet zwischen der Türkei und
Syrien, dass die kurdische Bevölkerungsgruppe schützt und
menschenrechtswidrige Abschiebungen in das Gebiet verhindert – die
Kurd*innen dürfen nicht zum Opfer des Deals zwischen Erdoğan, Assad und
Putin werden;
- Bemühungen der Bundesregierung für ein Verfahren gegen den Türkischen
Staatspräsidenten Erdoğan vor dem internationalen Gerichtshof in Den Haag;
- die Einstellung von allen Zahlungen an die Türkei, etwa im Rahmen der EU-
Beitrtittsverhandlungen.
Dieser Einsatz ist ein faschistischer Angriff auf alle
Kurd*innen
Vor allem stehen wir aber in diesen Tagen an der Seite der Zivilbevölkerung in
Nordsyrien, die diesen brutalen Allmachtsphantasien, bei Ignoranz der Deutschen
Bundesregierung und der Europäischen Union, ausgeliefert ist. Alle Menschen in
der Region, ganz egal, welcher Bevölkerungsgruppe sie angehören, haben unsere
volle Solidarität.
Im Kern dieses Einsatzes steht jedoch die kurdische Frage. Bekannt gewordene
Umsiedlungspläne der Türkischen Regierung zeigen, dass es dem Erdoğan-Regime im
Kern um eine ethnische Säuberung der Region geht. Kurdinnen und Kurden, die
schon im Inland der Türkei massivstem, staatlich organisiertem Terror ausgesetzt
sind, sollen nun auch aus rassistischen Gründen im Ausland vertrieben werden, um
Erdoğans Phantasie einer großen, islamischen und ethnisch einheitlichen Türkei
zu weichen.
Diese tragische Eskalation ist auch deshalb zu Stande gekommen, weil die
Anliegen der Kurdinnen und Kurden über Jahrzehnte durch die westliche
Außenpolitik vernachlässigt wurden. Dabei tragen die ehemaligen Kolonialmächte
eine besondere Verantwortung, da sie mit dem Vertrag von Lausanne 1923 die Idee
eines kurdischen Staates endgültig in den Boden stampften und die kurdischen
Gebiete auf den Irak, Syrien und die Türkei aufteilten. Dass der Nahe Osten
heute eine Krisenregion ist, kommt nicht von ungefähr – eine koloniale
Verantwortung müssen die ehemaligen Kolonialmächte dabei eingestehen. Die
kurdischen Minderheitenrechte spielen nun auch bei den EU-Beitrittsverhandlungen
mit der Türkei nur eine untergeordnete Rolle. Auch der Truppenabzug der USA aus
Nordsyrien und die damit einhergehende Ermöglichung dieses Massenmordes
bestätigt das Muster der starken Vernachlässigug der kurdischen Frage.
Die GRÜNE JUGEND steht an der Seite der kurdischen Bevölkerungsgruppe und ihrer
vielen politischen Akteur*innen, die um eine friedliche Lösung der kurdischen
Frage bemüht sind. Wir wollen sie nicht länger ignorieren, sondern, um Freiheit,
Selbstbestimmung und Frieden in der Region zu schaffen an einem kurdischen Staat
festhalten.
Wir fordern deshalb:
- einen kurdischen Staat, der die kurdischen Minderheiten sowohl in der
Türkei als auch im Iran, in Syrien und dem Irak, auf Grundlage des
kurdischen Siedlungsgebietes, angemessen berücksichtigen soll;
- verstärkte diplomatische Beziehungen zur Regierung der Autonomieregion
Rojava;
- die Wahrung der kurdischen Minderheitenrechte als Priorität Europäischer
Türkeipolitik;
- eine Aufhebung der Verbote kurdischer Organisationen und Symbole in
Deutschland und in der EU;
- einen sofortigen Stopp von behördlicher Zusammenarbeit mit Erdoğans
Vorfeld- und Lobbyorganisationen, insbesondere mit der Ditib.
Mit wachsender Sorge beobachten wir außerdem die Entwicklungen ab dem 13.
Oktober. Die Bündnispartnerschaft, welche die kurdischen Streitkräfte mit der
Regierung Assad geschlossen haben, mag nach Abzug der US-Truppen und dem
Ausbleiben ernsthafter diplomatischer Konsequenzen aus militärischer Sicht
strategisch richtig, wahrscheinlich sogar überlebensnotwendig gewesen sein, um
den türkischen Angriffskrieg aufzuhalten.
In letzter Konsequenz bedeutet diese ungleiche Partnerschaft für die Regierung
in Damaskus jedoch die Wiedererlangung ihrer Kontrolle über die kurdischen
Gebiete und damit die faktische Aufgabe der erlangten Teilautonomie. Assad,
dessen Regierung zahllose Menschenrechtsverstöße vorzuwerfen sind, die 2011 zum
Ausbruch des Bürgerkriegs in Syrien führten, wird seine Position dadurch
erheblich verbessern können; eine Welle neuer Menschenrechtsverletzungen, bis
hin zu politischen Morden, ist nun auch in Rojava zu befürchten.
Gleichsam fatal wird diese Entwicklung für die Stabilität der gesamten Region
sein. Assad gilt als traditioneller Verbündeter Russlands und des Irans. Mit
steigendem Einfluss Russlands wird nicht nur jener der NATO-Bündnispartner
sinken, das Interesse des Irans an Syrien gilt insbesondere einem direkten Weg
für Waffenlieferungen an die Hisbollah im Libanon, die diese wiederum für ihren
Terror gegen den israelischen Staat nutzt. Ein wiedererstarkter Assad bedeutet
in diesem Sinne also zugleich auch eine Bedrohung der Souveränität Israels.
Aus diesem Grund fordern wir, die syrische Regierung zu einer offiziellen
Bestätigung der Autonomität der kurdischen Gebiete aufzufordern, um in der Folge
sämtliche Truppen des Regimes kontrolliert aus diesen abzuziehen.